Bei unseren Expert Takes teilen Meinungsführer aus der Kryptoindustrie ihre Ansichten, ihre Erfahrungen und geben professionelle Ratschläge. Unsere Expert Takes decken alles ab - von der Blockchain-Technologie und ICO-Finanzierung bis hin zur Besteuerung, Regulierung und Kryptowährungsübernahme durch verschiedene Wirtschaftssektoren.

Wenn Sie einen Beitrag für unsere Expert Takes beisteuern wollen, schicken Sie Ihre Ideen an a.mcqueen@cointelegraph.com.

Die Mainstream-Medien sind wie besessen vom Krypto-Boom und richten dabei ihr Hauptaugenmerk meist auf den Bitcoin-Kurs. Indem sie Kryptowährungen wie jede andere Anlageklasse oder nur als Modeerscheinung behandeln, übersehen die Journalisten aber den sprichwörtlichen Elefanten im Raum: Auf die Investmentbanken kommt ein gewaltiger Umbruch zu.

Bereits mehr als 1.500 Kryptowährungen

Es ist heutzutage viel einfacher, Gelder über eine ICO zu beschaffen, als dies über traditionelle Venture Capital Fonds möglich wäre. In der Folge sind bereits mehr als 1.500 Kryptowährungen entstanden. Noch vor wenigen Jahren wäre es für ein kleines Unternehmen mit nur einer Handvoll Mitarbeitern undenkbar gewesen, Millionen von Dollar mit Hilfe eines einfachen White Papers einzusammeln. Ein Startup kann inzwischen mit einem aus ein paar dutzend Seiten bestehendem White Paper mit einem interessanten Konzept leicht Investoren finden. Dank des ERC20-Standards, der die existierende Ethereum Blockchain nutzt, kann jeder zu niedrigen Kosten einen Token herausbringen, ohne sich Gedanken über den Aufbau einer Blockchain-Infrastruktur machen zu müssen.

Ethereum wird sicher irgendwann einmal von einer noch besseren Plattform abgelöst werden. Aktuell hat Ethereum aber einen Marktanteil von mehr als 80 Prozent. Von aktuell 580 verfügbaren Tokens setzen 475 auf die Ethereum Blockchain.

Tokens pro Blockchain-Plattform

Quelle: Coinmarketcap.com, 2. Februar 2018

Die genialen Erfinder der Ethereum-Blockchain haben das Fundraising unglaublich vereinfacht. Man muss lediglich einen Smart Contract erstellen und kann dann eine ICO durchführen. Jedes Mal, wenn ein Vertragsteilnehmer ETH (Ethereum Token) überweist, werden automatisch neue Token erzeugt, die anschließend zurück an den Sender übermittelt werden. Die Wall Street hat daher allen Grund Angst zu haben. Schließlich ist Ethereum gerade dabei, die Investmentbanken überflüssig zu machen.

Das Bookbuilding (der Prozess, bei dem Investoren in einer Reihe von Anlegern Wertpapiere kaufen, die ausgegeben werden sollen) war in der Vergangenheit für die Wall Street sehr lukrativ. Investmentbanken fungierten als Vermittler zwischen Vermögensverwaltern und Unternehmen oder Regierungen, die Schulden (Anleihen) oder Aktien (IPOs) aufnehmen wollten. Bis vor kurzem gab es keine Möglichkeit, die Banken zu umgehen. Jetzt ist sie aber da. Den Investmentbanken tut das bislang zwar noch nicht weh, Risikokapitalgebern aber schon. Mittlerweile ist es nicht mehr ungewöhnlich, sie auch in der Liste der Pre-ICO-Investoren zu sehen (siehe die kommende Telegramm ICO). Die Risikokapitalgeber müssen sich entweder ihren Bedeutungsverlust hinnehmen, und die Wall Street wird als nächstes dran sein.

Token-Marktkapitalisierung per Plattform

Quelle: Coinmarketcap.com, 2. Februar 2018

Nach der Uberisierung der Wall Street

Anfangs habe ich diesen Beitrag mit "Die Uberisierung der Wall Street" betiteln wollen, aber dann realisiert, dass das, was Uber macht, bereits dem Geschäft der Banken entspricht: Sie bringen das Angebot (des Kapitals) mit der Nachfrage (der Investoren) zusammen, um als Mittelsmann eine saftige Gebühr zu nehmen. Uber hat lediglich einen Sektor durchgewirbelt, der sich seit seiner Entstehung nicht mehr weiterentwickelt hatte, und in welchem Angebot und Nachfrage unglaublich ineffizient miteinander abgeglichen wurden. Die Banken sind zwar bereits dabei, Angebot und Nachfrage auszugleichen, aber mit der Blockchain-Technologie werden sie künftig nicht mehr benötigt werden - zumindest nicht für das, was sie heutzutage tun.

Was Ethereum für den Bondmarkt bedeuten kann

Werfen wir einen Blick auf das aktuell lukrativste Geschäft an der Wall Street: Die Ausgabe von Unternehmensanleihen. Im letzten Jahr brachten Unternehmen weltweit Anleihen in einem Umfang von mehr als 3,5 Milliarden US-Dollar auf den Markt. Das funktioniert aktuell so: Ein Unternehmen beauftragt eine Investmentbank, damit diese dessen Anleihen an Pensionsfonds und Vermögensverwalter verkauft. Der Markt wird aktuell von den Investmentbanken kontrolliert, weil diese den nötigen Zugang zu den Fondsmanagern haben. Aber wie ICOs von Kryptowährungen mittlerweile gezeigt haben: Man braucht solche Intermediäre nicht mehr. Die Unternehmen könnten die Investoren auch durch direkt ausgegebene smarte Anleihen erreichen. Wie sähe dies in der Praxis aus?

Die Ausgabe

  1. Ein Unternehmen V erstellt mit der Ethereum Blockchain einen intelligenten Vertrag, der die Funktionsweise einer Anleihe nachbildet (d.h. halbjährliche Zahlung von Coupons und Rückzahlung des Kapitals bei Fälligkeit).
  2. Anleger, die am IBO (Initial Bond Offering) teilnehmen möchten, senden die ETH an die Vertragsadresse und geben den niedrigsten Coupon an, den sie akzeptieren würden.
  3. Sobald die IBO vorbei ist, baut der intelligente Vertrag automatisch das Orderbuch mit Investoren auf, die bereit sind, zuerst den niedrigsten Coupon zu akzeptieren. Der marginale Investor, der für das Ausfüllen des Orderbuchs benötigt wird, legt damit den Coupon für eine Anleihe fest.
  4. Alle Anleger, die es nicht in das finale Orderbuch geschafft haben, erhalten automatisch die ETH zurück, die sie an den Smart Contract geschickt haben.

Schuldendienst

  1. Alle sechs Monate erhalten die Anleger den Coupon (Zins), der im ursprünglichen Smart Contract festgelegt wurde.
  • Wenn Unternehmen V nicht das Risiko eingehen will, dass der Wert von Ethereum substanziell steigt, könnten entsprechend Ausgleichszahlungen in ETH geleistet werden, bei der der aktuelle Ethereum-Kurs für die jeweilige Währung der Anleihe berücksichtigt wird. Vor der Auszahlung des Coupons bezieht der intelligente Vertrag den Wechselkurs zwischen Anleihenwährung und Ethereum von einem Orakel (Datenprovider) und zahlt einen entsprechenden Betrag in ETH. Dadurch folgt die ETH-Anleihe genau dem Prinzip einer normalen Währungsanleihe.
  • Alternativ können Zahlungen von Coupons und Kapitalrückzahlungen direkt in Token erfolgen, die durch normales Geld gesichert und bei einem angesehenen, geprüften Finanzinstitut rückzahlbar sind.

    2. Bei Fälligkeit der Anleihe zahlt der intelligente Vertrag sowohl den Coupon als auch das Kapital aus (entweder den gleichen Betrag in ETH oder einen entsprechenden Betrag in US-Dollar).

Die Mechanik von Smart Bonds

Und wie viel menschliche Interaktion wäre bei einem solchen Geschäft notwendig? Gar keine! Alles, was getan werden muss, ist einen intelligenten Vertrag aufzusetzen. Wie schon beim ERC20-Standard können Sie davon ausgehen, dass bereits in Kürze standardisierte Kontrakte für Anleihen verfügbar sein werden. Ein sorgfältig überprüfter durch Auditing verifizierter Vertrag für smarte Anleihen würde das Risiko von Fehlern im dafür benutzten intelligenten Vertrag einschränken.

Großes Potential für smarte Anleihen

Die Art und Weise, wie der Anleihenmarkt derzeit funktioniert, hält viele Investoren fern. Der Kauf einer einzelnen Anleihe erfordert oft zwischen 5.000 und 200.000 Dollar. Daher bleibt vielen Anlegern keine andere Wahl, als Investmentfonds oder ETFs zu kaufen, die einen Korb von Anleihen enthalten. Mit einer intelligenten Anleihe könnte man aber bereits mit einer kleinen Investition wie etwa 10 Dollar bereits im Anleihengeschäft mitmischen. Im Ausland lebende Investoren, die in ihrem Heimatland investieren wollen, können dies genauso tun, wie kleine und mittlere Unternehmen. Sie alle bekommen Zugang zu neuen Finanzierungsmöglichkeiten, die über das hinausgehen, was Geschäftsbanken ihnen anbieten können. Mikroanleihen könnten ebenfalls begeben werden, und das alles zu fast keinen Kosten. ICOs waren nur der Anfang, die wirkliche Erschütterung der Finanzmärkte steht erst noch bevor.

Haftungsausschluss: Die Ansichten und Interpretationen in diesem Artikel sind die des Autors und stellen nicht notwendigerweise die Ansichten von Cointelegraph.com oder der Weltbank dar.

Vincent Launay ist ein Finanzspezialist bei der Weltbank in Washington DC. Er hat einen Master of Science in Finance von der HEC in Paris und ist ein Chartered Financial Analyst des CFA Institutes in den USA.