Im Oktober hat die Europäische Union den Text ihres Regulierungsrahmens “Markets in Crypto Assets” (MiCA) fertiggestellt. Die Zeiten ohne staatliche Aufsicht könnten in der EU bald vorbei sein, denn neben Meldepflichten kategorisiert MiCA Kryptoassets in einzelne Bereiche, für die jeweils bestimmte Regeln gelten.

Die weitreichende Krypto-Richtlinie, die für Krypto-Dienstleister und Emittenten von digitalen Vermögenswerten in 27 EU-Ländern gelten würde, wurde zuerst 2020 von der Europäischen Kommission eingeführt, der Exekutive der EU, die für das Vorschlagen neuer Gesetze zuständig ist. Mit dieser Idee zur Regulierung von Kryptoassets hat die Europäische Kommission einen mutigen Schritt unternommen und sowohl den Willen als auch die Fähigkeit gezeigt, sich kreativ mit komplexen Themen auseinanderzusetzen.

Dr. Joachim Schwerin, Leitender Ökonom im Referat „Digitale Transformation der Industrie“ der Generaldirektion für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU bei der Europäischen Kommission, ist für die Politikentwicklung in den Bereichen Token-Ökonomie und Distributed-Ledger-Technologien sowie deren Anwendungen in der Realwirtschaft verantwortlich. Im Gespräch mit Cointelegraph auf Deutsch legt Schwerin seine eigenen Ansichten dar zur umfassenden Wichtigkeit von Dezentralität und zur Rolle von Stablecoins sowie darüber, warum wir unbedingt eine einheitliche Terminologie rund um Krypto herausarbeiten müssen.[1] 

Cointelegraph auf Deutsch: Nach der Insolvenz der drittgrößten Kryptobörse FTX fordern einige europäische Politiker, darunter auch die Finanzkommissarin Mairead McGuinness, eine strengere Regulierung der Kryptobranche. Was denken Sie über den Fall FTX? Ist Vorsicht die beste Verteidigung?

Joachim Schwerin: Mit der MiCA-Verordnung haben wir gerade einen Regulierungsrahmen verabschiedet, der in Zukunft negative Folgen derartiger Vorkommnisse minimieren soll. Er war zum Zeitpunkt des Falles FTX nicht in Kraft, kommt aber hoffentlich möglichst bald, und damit sollte das Vorsichtsprinzip deutlich untermauert werden. 

Grundsätzlicher betrachtet fördern wir den Kryptobereich und wollen seine organische, marktgetriebene Entwicklung unterstützen. Das bedeutet: Die vielfältigen positiven Möglichkeiten sollen erkannt und genutzt werden. Es ist hier wie im Sport: Verteidigung kann in bestimmten Spielphasen Sinn machen, aber meistens bedeutet verteidigen, dass eine Mannschaft zu schlecht ist, um selbst das Spiel in die eigenen Hände zu nehmen. Wir wollen entwickeln und fördern, nicht bremsen.

Aus diesem Grund möchte ich das Narrativ umkehren. FTX ist ein typischer Fall, wie bei jedem technologischen Innovationspfad, der als nützlicher Teil einer Lernkurve angenommen werden muss, um Produkte und Dienste weiter zu verbessern. Dies gilt um so mehr, als im Kryptobereich die dezentralen Selbstheilungskräfte wesentlich stärker ausgeprägt sind als etwa in rigiden traditionellen Kapitalmärkten.

Das sahen wir bereits unmittelbar nach diesem Ereignis, und es hat inzwischen zu einer Fülle von Anregungen geführt. Ein Teil der Kryptogemeinschaft konzentriert sich nun noch mehr auf bessere Regelvorgaben und -einhaltungen in regulierten oder zukünftig regulierten Umgebungen, ein anderer schaut verstärkt nach wirklich dezentralen Mechanismen, um das Fehlerpotential mit Macht ausgestatteter Individuen zu vermindern. Alles dies ist positiv und ändert nichts am Narrativ von Krypto als Erfolgsgeschichte mit noch viel mehr zukünftigem Potential.

CT: Noch 2018 haben deutschsprachige Medien relativ einseitig über die Blockchain berichtet und die Technologie als "Hype" bezeichnet sowie Kryptowährungen oft im Zusammenhang mit betrügerischen Projekten erwähnt. Wann haben Sie persönlich verstanden, dass Blockchain mehr als bloß ein Trend bzw. Hype ist?

Joachim Schwerin: Mein Interesse an der Blockchain ist ungefähr zehn Jahre alt und kam aus unserer Arbeit mit der Finanzkrise, als wir uns mit Bankenrettungen und der Stabilisierung des Finanzsystems beschäftigt haben. Damals fand sich massives systemisches Risiko in zentralen Strukturen. Auf der Suche nach alternativen Finanzierungen sind wir auf das Thema Crowdfunding bzw. alternative Finanzierung gekommen, wo wir zum ersten Mal gemerkt haben, wie wichtig alternative, dezentrale Formen von Finanzierung sind.

Bereits 2015 haben meine Kollegen aus der Europäischen Kommission und ich auf Anregung von Jean-Claude Juncker, der damals Präsident der Europäischen Kommission war, analysiert, was Europas zukünftige Prioritäten für Innovationen sein sollten. Wir hatten zu diesem Thema ein riesiges Brainstorming innerhalb der ganzen Kommission, und ich habe die Blockchain vorgeschlagen, weil die Technologie mir schon vertraut war. 2016 haben wir uns dann auf Blockchain als eine von ganz wenigen Kerninnovationen für sämtliche Politikbereiche festgelegt.

Ich stelle hier klar: Ich sehe den Nutzen der Technologie vor allem in Anwendungen für die Realwirtschaft. Bitcoin und andere Kryptowährungen sind schön und faszinierend mit bleibender Bedeutung, aber das sind private Konzepte und dafür müssen wir keine öffentlichen Ressourcen aufwenden. Wenn man wirklich mit öffentlichen Ressourcen herangeht, muss der Nutzen für die kleinen Unternehmen und die Bevölkerung deutlich sein. Und das ist genau das Potenzial, das die Blockchain hat. Wir haben deswegen von Anfang an die Blockchain nicht primär als Technologie betrachtet, sondern als eine Philosophie, als etwas, was eine genuine Form von Dezentralität ermöglicht, die Vertrauen stiftet; als vertrauenswürdige Technologie, die auch kleinen Unternehmen weltweit Marktchancen eröffnet und es ermöglicht, daß viele Leute mit denselben Interessen, die sich aber gar nicht kennen, in der richtigen Welt digital zusammenkommen und Projekte entwickeln können.

Dieses Verständnis der Blockchain-Technologie hatten wir im Kopf, als sich diese Diskussionen rund um zweifelhafte ICOs in den Jahren 2017-2018 oder, dass Geldwäsche mit Krypto angeblich einfacher sei, entwickelt haben. Solche Argumente haben uns aber nicht überzeugt. Es gibt mindestens 80 klassifizierte Mechanismen der Geldwäsche, von Bargeld bis zu allen möglichen Formen über Finanzintermediäre. Durch die Art der Blockchain-Technologie, durch die Transparenz und Nachvollziehbarkeit, weil es nicht perfekt anonym ist, gibt es eine viel größere Möglichkeit, Krypto-Transaktionen nachzuverfolgen und sie von Kriminalität zu begrenzen, was auch die Daten solcher Dienste wie Chainalysis zeigen. Der Prozentsatz der Finanzkriminalität im Zusammenhang mit Kryptowährungen ist aus meiner Erfahrung deutlich niedriger als in traditionellen Formen von Finanzierung. Deswegen haben wir uns nicht von irgendwelchen Beispielen von Kriminalität oder von dem Fall Terra (LUNA) abhängig gemacht, genauso wenig wie von FTX oder irgendeinem nächsten Fall dieser Sorte, sondern wir waren und sind zu 100 % überzeugt von der Technologie. Wir haben uns frühzeitig damit beschäftigt, und deswegen hatten wir dann bereits so viel gelernt, dass wir in der Position waren, um in Rekordzeit an der Regulierung “Markets in Crypto Assets” (MiCA) zu arbeiten sowie an Anwendungen in der Realwirtschaft. Zum Beispiel entwickeln wir aktuell eine Blockchain-Plattform, um Fake-Produkte entdecken und Fälschungen verhindern zu können.

CT: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat einen Bericht nach dem Terra-Zusammenbruch veröffentlicht und dort Stablecoins als Bedrohung für die Finanzstabilität genannt. Wie ist Ihre Meinung dazu? Sollten Stablecoins strenger reguliert werden?

Joachim Schwerin: Wir brauchen Stablecoins in verschiedensten Formen. Stablecoins haben wichtige Funktionen innerhalb des Kryptobereiches, um zum Beispiel Kursschwankungen abzufedern oder Transaktionen zu erleichtern. Deswegen haben wir auch in der MiCA-Verordnung Stablecoins grundsätzlich erlaubt. Wir haben nichts verboten, sondern grundlegende Regeln für Herausgeber der privaten Stablecoins entwickelt, die wir sinnvoll finden, zum Beispiel, daß sie eine angemessene Mindestliquidität als Reserve aufweisen müssen.

Aber damals, als wir noch an MiCA gearbeitet haben, hatten wir die öffentliche Diskussion um das Facebook-Projekt Libra, und Libra hätte die Finanzmarktstabilität gefährden können. Doch wie gesagt: wir sehen nicht nur Risiken, sondern auch Möglichkeiten, und wir wollen uns dem Neuen und Innovativen öffnen, gleichzeitig jedoch auch einen klaren regulatorischen Rahmen setzen.

Wenn wir über den Fall Terra sprechen – das Ganze betrachte ich ähnlich wie FTX eher als einen Lernprozeß, hier aufgrund der Transparenz und der vorangegangenen Diskussionen innerhalb der Krypto-Welt über die Struktur von Terra sogar noch mehr. Das nächste ähnliche Projekt wird einfach besser sein, da man diese Erfahrung schon gemacht hat. Das ist eine natürliche Entwicklung in der Innovation.

CT: MiCA sieht vor, dass es für Stablecoins auf Basis von Fremdwährungen ein Limit von einer Million Transaktionen und 200 Millionen Euro Transaktionsvolumen pro Tag geben sollte. Aber der Kryptomarkt ist heute von den US-Dollar-Stablecoins Tether und USD Coin dominiert, sie haben deutlich größere Volumen. Wie werden sie reguliert?

Joachim Schwerin: In der MiCA gibt es eine Differenzierung zwischen signifikanten und nicht signifikanten Token, für die unterschiedliche Regeln gelten. Entscheidend ist die Anzahl der Nutzer, die diese Token besitzen, die Marktkapitalisierung, der Wert der mit den Token getätigten Geschäfte, der Umfang der Vermögensreserve und so weiter. Handelt es sich um einen signifikanten Token, so hat die Zulassung durch die EBA zu erfolgen, während bei nicht signifikanten Token die nationalen Behörden über die Zulassung entscheiden. Darüber hinaus haben wir die regulatorische Sandbox für Krypto-Plattformen, also für die Assetplattformen, für die es auch andere Begrenzungen gibt, um zugleich potenzielle Risiken zu verringern.

Die Frage von US-Dollar versus Euro ist ein anderes Problem, das nichts mit der reinen Natur von Stablecoins zu tun hat, sondern mit der Denomination, was natürlich auch ein wichtiger Punkt ist. Wenn man zum Beispiel Reserven für Stablecoins in Euro halten will, mußte man lange Zeit mit negativen Zinssätzen im Euroraum rechnen. Das war definitiv kein Anreiz, um einen Euro-denominierten Stablecoin aufzusetzen.

CT: Erwarten Sie, dass es mit dem Inkrafttreten von MiCA mehr Euro-Stablecoins geben wird?

Joachim Schwerin: Das ist möglich, aber ich erwarte das nicht, weil sich der gesamtwirtschaftliche Kontext, die Geopolitik und der Euro nicht in diese Richtung entwickeln. Jetzt ist es kaum möglich, allein durch MiCA neue Ansätze zu finden, dass wir deutlich mehr Euro-denominierte Stablecoins bald im Euroraum haben werden. Allerdings denke ich, MiCA könnte dazu beitragen, dass wir insgesamt offener für Stablecoins werden.

Es ist wahr, dass der größte Stablecoin an den US-Dollar gekoppelt ist. Der Euro-Stablecoin von Circle wurde auch außerhalb des Euroraums herausgegeben. Wir beobachten die Situation und beschäftigen uns mit der Frage, warum das der Fall ist und wie wir solche Projekte nach Europa bringen können. Aber die entscheidenden Faktoren, warum es so wenig Euro-Stablecoins gibt, liegen nicht in der MiCA-Verordnung, sondern haben andere Ursachen, gerade auch geldpolitischer Art.

CT: Bei der MiCA sind die Dezentralisierte Finanzen (DeFi) ausgelassen. Kryptowährungen aus DeFi-Projekten werden durch die neue Verordnung erfasst, die DeFi-Infrastruktur ist aber nicht betroffen. Ist es überhaupt möglich, die DeFi auf ihrem aktuellen Entwicklungsstand zu regulieren?

Joachim Schwerin: In der praktischen Politik, bei begrenzten Ressourcen, ist alles eine Frage der Prioritätensetzung: Wir machen die Arbeit an MiCA fertig, wir arbeiten am digitalen, möglicherweise programmierbaren Euro, wir haben eine neue Initiative zum Metaverse – das sind jetzt unsere Prioritäten. Die DeFi-Regulierung steht noch nicht auf unserem Programm, und ich wüßte auch nicht, warum, solange DeFi wirklich dezentral ist und damit keine Regulierung von Intermediären erfordert. Wir wissen natürlich, dass es Stimmen gibt, die sagen, dass wir DeFi endlich regulieren müssen. Wir haben im Moment aber keinen politischen Auftrag dazu und auch keinen Anlass.

Wir informieren uns jedoch selbstverständlich über verschiedene DeFi-Modelle und versuchen zu verstehen, wohin sich der Markt entwickelt. Aber das alles hat nicht primär einen regulatorischen Ansatz, sondern es geht darum, die Businessmodelle zu verstehen, um sie auch entsprechend zu unterstützen, weil wir DeFi, die wesentlich geringere Risiken als zentrale Finanzierungsmodelle hat, vom Grundsatz her als sehr positiv ansehen. DeFi trägt über das Ökonomische hinaus zur Inklusion von vielen Gruppen der Bevölkerung bei, die bis jetzt noch nicht an der Entwicklung partizipiert und keinen Zugang zu für uns üblichen Finanzen haben. Diese Integrationsfunktion von DeFi ist daher von großer Bedeutung für uns.

Außerdem ist DeFi als Gruppenphänomen etwas Neues, anders als andere Finanzierungsformen, wo wir klare Intermediäre haben. Bei genuinem DeFi gibt es keine Intermediäre, sondern ein Kollektiv, das ein DeFi-Modell in die Welt setzt und die Verantwortung verteilt, was mit traditionellen regulatorischen Ansätzen nicht zu regeln ist. Hier muss man neu und kreativ denken, um von unten nach oben vielleicht Minimalanforderungen an DeFi-Projekte herauszuarbeiten, die auch für die Selbstkontrolle des Markts wichtig sind. Es gibt noch so viele offene Fragen, sodass wir von der Seite der Europäischen Kommission noch keine abschließende Meinung zu diesem Thema haben. 

CT: Der Binance-Chef Changpeng Zhao ist zuversichtlich, dass MiCA “zum globalen Regulierungsstandard wird, der auf der ganzen Welt kopiert werden wird”. Könnte MiCA tatsächlich für die ganze Welt wegweisend werden?

Joachim Schwerin: Wir machen jetzt kein Marketing weltweit und sagen, dass alle die MiCA-Verordnung kopieren müssen. Aber ich sehe schon ein großes Interesse von anderen Ländern und auch aus den USA. Für mich ist MiCA eine besonders gute Form von Regulierungsansatz, die für globale Finanzregulierung innovativ und liberal ist. Aber wir dürfen uns jetzt, obwohl MiCA schon fertig ist, nicht ausruhen, sondern wir müssen weiter beobachten, wie schnell die Innovation im Kryptobereich weitergeht und was neue Herausforderungen sind. Es war, ist und bleibt ein langer Lernprozess.

CT: Welche offenen Baustellen sehen Sie persönlich im Bereich Krypto-Regulierung – europa- und weltweit?

Joachim Schwerin: Ich sehe jede Menge Baustellen, die im Wesentlichen mit Bildung, Aufklärung, Co-Learning zu tun haben. Erstmal müssen wir anfangen, uns die Begriffe vor Augen zu führen. Jeder verwendet unterschiedliche Begriffe: Stablecoins, Digital Assets, Kryptoassets, virtuelle Währungen, Kryptowährungen, Kryptowerte. Aber die Sprache formt unser Denken. Wenn wir keine Klarheit in der Sprache finden, können wir uns nicht tief mit dem Thema befassen. Was ist zum Beispiel Dezentralität? Es gibt Menschen, die sagen, es gibt verschiedene Maße von Dezentralität, das heißt, man kann ein bisschen Dezentralität haben. Ich denke aber, Dezentralität ist wie schwanger sein: man ist es oder man ist es nicht. Es ist entweder komplett dezentral, was vollkommen neue Wirkungsmechanismen ohne irgendwelchen zentralen Einfluss ins Leben ruft, oder es ist nicht dezentral, dann befindet man sich in einem Bereich, wo es Macht und Kontrolle von bestimmten Leuten gibt.

Diese Dinge muss man zuerst analysieren, um sie zu verstehen. Hier sehe ich die größte Herausforderung, dass wir überhaupt erst eine gemeinsame Sprache finden müssen, um über solche Themen wie DAOs, Metaverse, NFTs und alles, was noch kommt, zu reden, ganz davon zu schweigen, diese Bereiche irgendwann vielleicht zu regulieren.


[1] Dr. Joachim Schwerin gibt in diesem Gespräch seine persönlichen Ansichten wieder. Diese stellen nicht notwendigerweise eine offizielle Meinung der Europäischen Kommission dar.